Große (Selbst)zweifel sind Programm

Digital Industrial Management and Engineering, kurz DIME, klingt super wichtig und wahnsinnig spannend. So stellen es die Professoren Dir zu Beginn auch vor und das wird auch von Ihnen gelebt. Das Problem: Mehr als heiße Luft ist das nicht. Ich möchte Dir den Studiengang anhand von persönlichen Anekdoten näher bringen. Zu einfacheren Darstellung wird auf das Gendern verzichtet. Es wird hiermit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der männlichen Version alle Geschlechterformen angesprochen werden.

Der Forschungsmaster streckt sich über vier Semester und legt den Schwerpunkt auf Supply Chain Management und Intralogistik in der Industrie 4.0. Der sperrige Name DIME verbirgt also nichts anderes als Wirtschaftsingenieurwesen mit einem fancy Namen. Durch das forschungsnahe Umfeld dieses Studiengangs bekommt Ihr alle für die gesamte Studienzeit einen individuellen Professor als Betreuer. Klingt super! Ein konkreten Ansprechpartner, der sich mit Eurem individuellen Thema auskennt und für Eure fragen zur Verfügung steht. Leider werden die Professoren den Studierenden zugewiesen. Die Zuordnung erfolgt auf Basis dessen, was Ihr als Forschungsrichtung im Bewerbungsgespräch nennt. Für die konkrete Themenwahl sind eigene Ideen zwar zulässig, sollten aber dringend denen des Professors entsprechen. Du darfst das Thema im Prinzip frei ausgestalten, es sollte aber unbedingt den Vorstellungen Deines Betreuers entsprechen. Du darfst theoretisch sogar auch ein eigenes Forschungsthema wählen, solltest es aber am besten nach den Wünschen Deines Betreuers gestalten.

Die Betreuung läuft je nach Professor sehr unterschiedlich ab. Bei manchen Professoren wird man in ein Team mit Doktoranten und wissenschaftlichen Mitarbeitern integriert. Bei anderen Professoren arbeitest Du isoliert und hast womöglich monatelang keinen Kontakt zu Deinem Betreuer.

Der Studiengang schreibt sich auf die Fahnen praxisnah zu sein. Zudem handelt es sich in Reutlingen um eine „University of Applied Science“. Ich habe das so interpretiert, dass ich keine theoretische Forschungsarbeit (Masterarbeit) schreibe, sondern auf Basis von Unternehmensdaten eine Lösung für ein konkretes Problem erarbeiten darf. Dies war zu Beginn auch von meinem Betreuer befürwortet worden. Nach wenigen Wochen habe ich jedoch eine sehr klare Nachricht bekommen, dass ich mich auf die hochschulintere Infrastruktur beschränken soll. Zudem durften plötzlich keinerlei Informationen den Studiengang, die Fakultät und die Hochschule mehr verlassen. Hier sei angemerkt, dass die Verbindung zwischen den Fakultäten sehr zu wünschen übrig lässt. Für ein technisches Thema wollte ich mir Erfahrungen an der technischen Fakultät (TEC) einholen, wurde aber scharf zurückgewiesen.

Der generelle Umgang der Professoren mit den Studierenden ist aus meiner Sicht äußerst grenzwertig. Aus vielen Gesprächen mit Kommilitonen habe ich erfahren, dass jeder mindestens einmal schwerer an sich und dem Studium gezweifelt hat. Jeder hat mit dem Gedanken gespielt das Studium abzubrechen. In der Regel ziehen sich diese Gedanken über zwei bis drei Semester. Psychisch ist diese Zeit nur schwer aushaltbar. Ich habe sehr stark an mir gezweifelt und hätte das Studium ohne mein privates Umfeld niemals durchgestanden. Ein respektvoller Umgang ist bei einigen Professoren leider ein Fremdwort. Aussagen, wie die Studierende müssen auch mal “gegrillt” werden, sind normal.

Bezüglich des Umgangs der Professoren mit uns habe ich mich auch an die Vertrauensprofessoren gewendet. Diese konnten mir in sofern weiterhelfen, als dass sie mit unseren Professoren das Gespräch gesucht haben und ihnen unsere Anliegen anonym mit der Bitte um Besserung vorgetragen haben. Anstatt auf die Punkte einzugehen und (kleiner Spoiler) im Laufe der Zeit darauf einzugehen, wollten Sie unbedingt herausfinden, welche Studenten dahinter stecken.

Wenn Du dich fragst, warum ich den Weg über die Vertrauensprofessoren gewählt habe und mich nicht direkt an die Professoren gewendet habe, sei hierzu folgendes gesagt. Grundsätzlich befürworte ich einen ehrlichen, offen, respektvollen und direkten Umgang. Da keine dieser Eigenschaften gegeben war und ich das Gefühl hatte von Ihnen nicht ernst genommen zu werden und weiter auch als lächerlich dargestellt zu werden, habe ich von diesem Weg abgesehen.

Durch das verpflichtende Auslandssemester nach Purdue (USA) oder Stellenbosch (Südafrika) kannst Du tolle und unvergessliche Erfahrungen fürs Leben sammeln. Ich war in Stellenbosch und kann daher nur für dort sprechen. Südafrika war eine spannende Zeit, weil ich gelernt habe in einem fremden Umfeld zu leben und zu studieren. Der Mehrwert des Auslandsaufenthalt liegt meiner Meinung nach ganz klar in der Persönlichkeitsentwicklung.

Die Vorlesungen sind in Stellenbosch etwas anders aufgebaut als an der Hochschule Reutlingen, da es sich um eine Universität handelt. Wie die Vorlesungen an der Hochschule in Reutlingen sind es wenige ausgewählte Themen, welche leider zum Großteil sehr oberflächlich behandelt werden. Beispiele hierfür sind die Vorlesung „Smart Factory“ in Reutlingen oder „Advanced Topic in Engineering Management“ in Stellenbosch. Diese Vorlesungen wurden sehr trocken und größtenteils als Frontalunterricht gehalten. In Smart Factory durften wir einmal kurz mit Robotern spielen, kamen aber auch in den Genuss das äußerst wichtige Thema Design Thinking kennen zu lernen. Zu den interessanten Vorlesungen gehörte aus meiner Sicht Data Science, da wir uns hier eigenständig mit Machine Learning beschäftigen durften.

Die Organisation des Studiengangs würde ich klar als mangelhaft beschreiben. Den Studiengang gab es schon mehrere Semester als ich ihn begonnen habe. Jedes Semester reist eine Gruppe nach Stellenbosch oder Purdue. Doch von Seiten der Professoren oder der Studiengangkoordination gab es keinerlei Hilfe bei der Beantragung des Visums und aller hierfür nötigen Unterlagen. Wir mussten nach Rückfrage sogar erklären, warum wir eine Entsendungsschreiben der Hochschule Reutlingen benötigen. Ich frage mich: Haben das die Semester vor mir nicht gebraucht?

Wenn Du eine Karriere in der Forschung anstrebt ist der Studiengang sicherlich interessant für Dich. Neben Wissenschaftstheorie erwartet Dich auch eine Publizierung und der Besuch einer wissenschaftlichen Konferenz. Allerdings muss Du Dir im klaren sein, dass Du mit starken hierarchischen Strukturen konfrontiert wirst, bei denen Du ganz unten stehst.

Persönlich kann ich keinem zu diesem Studiengang raten. Ich bin vom Umgang der Professoren noch immer entsetzt und habe mich bisher noch nicht vollständig von den Selbstzweifeln erholt.