Viel BWL/VWL, wenig Soziologie

Liebe(r) Leser(in), du hast großes Glück meinen Erfahrungsbericht vorliegen zu haben, denn als ich anfing, gehörte ich zu der allerersten Runde der Studienanfänger(innen) dieses 2021 brandneu eingeführten Studiengangs, zu dem damals noch keinerlei Erfahrungsberichte vorlagen. Hier mein Urteil: Die Dozent(innen) sind nett, antworten schnell und nehmen sich genügend Zeit für eine gute Betreuung. Das Hochschulgebäude ist sauber und gepflegt, auch der Ort Hof an sich ist adrett. Die Kurse sind nicht überfüllt und haben die richtige Größe. Mein größter Kritikpunkt ist der relativ geringe Anteil soziologischer Inhalte am Gesamtstudium. Während den sieben Semestern sind insgesamt nur 30% aller Kurse/Veranstaltungen für soziologische Inhalte vorgesehen (gemeint ist alles an Soziologie: also allgemeine Soziologie, soziologische Methoden und spezialisierte Soziologien wie WS und OS). Im ersten Semester z.B. gab es an soziologischem Inhalt nur die "Einführung in die Soziologie", die bloß 5 von 31 Punkten ausmachte, alles andere war nicht-soziologisch. Das Modul "Allgemeine Psychologie" (ebenso 5 Punkte) war z.B. genauso umfangreich wie die soziologische Einführung. Im zweiten Semester steigt der soziologische Anteil von 16% auf 33%. Ob das zu wenig/unausgewogen oder noch ausreichend ist, muss jeder für sich entscheiden. Der Studiengang könnte genauso gut "Betriebswirtschaftslehre und Organisationspsychologie" heißen...

Nur weil etwas "Wirtschaft" im Namen hat, heißt das noch lange nicht, dass es wirtschaftssoziologisch ist. Wirtschaftsmathematik z.B. hat mit WS/OS nichts zu tun.
Ich finde es wichtig darauf hinzuweisen, was Wirtschaftssoziologie (WS) und Organisationssoziologie (OS) sind und was sie NICHT sind: WS und OS sind eigenständige Subdisziplinen der Soziologie und keine Randerscheinungen von BWL/VWL. WS und OS bedeuten NICHT (!) "Wirtschaft und Organisation aus wirtschaftswissenschaflicher Perspektive plus zusätzlich Soziologie", sondern sie bedeuten "Wirtschaft und Organisation aus einer soziologischen Perspektive". Das ist ein gewaltiger UNTERSCHIED! Diesen Satz würde ich gerne mit einem roten Edding unterstreichen. In diesem Studiengang jedoch wird eher die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive gelehrt, teilweise seltener auch etwas psychologisch. Die Inhalte sind mehr an echter BWL/VWL orientiert und wenig an echter OS/WS. Daher finde ich die Bezeichnung für diesen Studiengang einigermaßen irreführend, es ist so als würde man im Restaurant Orangensaft bestellen, und dann bekommt man Multifruchtsaft (mit Apfel, Mango, etc.) mit 30% Orangeninhalt serviert. =( Bevor ich anfing zu studieren, dachte ich, wenn da OS und WS drin steht, wird da auch OS und WS im hohen Umfang drin sein. Ich habe mich geirrt. Jetzt werde ich Empfehlungen und Alternativen vorschlagen.

FÜR WEN IST DIESER STUDIENGANG EMPFEHLENSWERT?
Wer sich zwischen VWL, BWL, Marketing, Englischkursen, Psychologie und Soziologie nicht entscheiden kann und zu allem tendiert, dem kann kann dieser Studiengang geraten werden, weil er von allem etwas bietet. Das kann ein Nachteil (man wird kein Experte für etwas Bestimmtes), aber auch ein Vorteil sein. So kann man die Bachelor-Phase in seiner Breite nutzen, um später sich im Master auf etwas Konkreteres zu spezialisieren.

FÜR WEN IST DIESER STUDIENGANG NICHT EMPFEHLENSWERT?
Wer ein Fach in seiner Tiefe erleben will (besonders WS/OS), wird hier nicht fündig.

WELCHE ALTERNATIVEN EXISTIEREN?
Man kann speziell echte Organisationssoziologie in Bielefeld studieren und echte Wirtschaftssoziologie in Frankfurt, allerdings nur auf Master-Ebene. In Deutschland, Österreich, Schweiz und Luxemburg existiert zum jetzigen Zeitpunkt kein anderer "OS/WS"-Studiengang auf Bachelor-Ebene. Man kann diesen Studiengang als Überbrückungsbachelor benutzen, um dann im Master OS oder WS in Bielefeld oder Frankfurt zu studieren. Alternativ kann man auch an einer Uni die Kombination BWL+Soziologie auf BA-Ebene wählen, mit jeweils Haupt und Nebenfach.

Ich würde es besser finden, wenn der Studiengang nur auf 6 statt 7 Semestern ausgelegt wäre, weil in der Regel die (Uni-)Masterstudiengänge auf 4 und nicht 3 Semester ausgelegt sind (und ein 3-Semester Studium auch nicht sinnvoll wäre, weil der Umfang für Spezialisierung zu gering ausfällt). Diese Bewertung möchte ich noch etwas präzisieren: Auf Studycheck kann man nur auswählen, ob man ein Studium weiter empfielt oder nicht (klare Ja/Nein-Option). Eine neutrale Position dazwischen gibt es nicht. Ich würde zu einer neutralen Position tendieren, aber wenn die Wahl nur zwischen Ja und Nein ist, dann eher ein bisschen zu Nein. Wie gesagt, ihr müsst selber euch überlegen, ob ihr mehr der Soziologie-Typ seid (dann eher nein, gilt auch speziell für OS/WS) oder der BWL-Typ (dann eher ja, aber dann könnte man ja auch direkt BWL studieren). Ich hoffe ich konnte euch weiterhelfen. :)